Martina Hagspiel
Gründerin Kurvenkratzer
Martina Hagspiel spricht hauptberuflich über Krebs. Warum für sie dazu eine ordentliche Portion tiefschwarzer Humor gehört und warum ihre Plattform Kurvenkratzer daher bewusst mit knallbunten Farben arbeitet, erzählt sie im Interview.
Martina, du bist Gründerin von Kurvenkratzer. Kannst du unseren Leserinnen und Lesern erklären, was Kurvenkratzer genau ist?
Kurvenkratzer ist sehr viel. Angefangen hat das Ganze mit meiner Brustkrebs- erkrankung 2010 und der Idee eines Buchprojekts. Wir waren damals eines der ersten Kickstarter-Crowdfunding-Projekte in Österreich. Leider haben wir die Finanzierungsschwelle nicht erreicht, obwohl Weltstars der Fotografie auf unser Projekt aufgesprungen sind. Rückblickend war dieses Scheitern ein riesengroßes Glück, weil wir unsere Idee digital weitergedacht haben. In Videoform haben wir Krebspatientinnen und -patienten sowie Angehörige interviewt und sie erzählen lassen, vor welchen großen Herausforderungen sie gestanden sind oder ob – und das ist tief in der DNA von Kurvenkratzer verankert
– daraus vielleicht auch Gutes entstanden ist. Heute ist Kurvenkratzer ein Verein und eine Agentur für digitale Gesundheitskommunikation, die Patientensprache spricht. Wir sind ein freches und buntes Onlinemagazin rund um den Lebensumstand Krebs und beschäftigen uns mit Themen wie Ernährung, Psychologie, Partnerschaft und Sexualität.
Was war deine Intention hinter Kurvenkratzer und was hat sich seit der Gründung verändert?
Es war nicht nur eine Intention, sondern es waren mehrere Beweggründe. Uns ging und geht es einerseits darum, das Thema Krebs in einer emotionalen Herangehensweise zu erklären, und andererseits darum, das Tabu rund um Krebs aufzubrechen. Neu hinzugekommen ist für uns der Bereich der Patient Advocacy, also der Patientenmündigkeit. Alle diese Themen versuchen wir möglichst angstfrei aufzubereiten. Denn Angst beginnt schon im Kopf. Mut übrigens auch.
Der Anlass zu Kurvenkratzer war ja deine eigene Brustkrebserkrankung vor zehn Jahren. Wie ging es dir damals und wie geht es dir heute?
Mir war damals nicht bewusst, dass ich es mit einem Tabu zu tun habe. So richtig gemerkt habe ich es erst, als Menschen auf meine Krebsglatze reagiert haben. Das war wie eine Art Sozialstudie. Manche verstanden nicht, warum ich kein Kunsthaar tragen wollte, manche verhielten sich deplatziert und manche reagierten mit Neugierde und sind offen auf mich zugegangen. Letzteres war mir übrigens am liebsten. Ich hatte damals Angst vor dem Sterben, wusste nicht über meine Rolle als Patientin Bescheid und war, so wie mein Umfeld auch, einfach überfordert. Einer der Gründe für die Entstehung von Kurvenkratzer war daher auch, den drei Dialoggruppen – Patientinnen und Patienten, Angehörige sowie medizinisches Personal – jeweils die andere Perspektive zu zeigen.
Was hat sich für dich persönlich durch deine Krebserkrankung verändert?
Sehr viel. Grundsätzlich geht es mir heute gut, aber ich bin mit Langzeitfolgen wie Fatigue, Knochenschmerzen und geringerer Belastbarkeit konfrontiert. Ich messe heute Dinge wirklich daran, ob sie mich glücklich machen oder nicht, und treffe darauf aufbauend radikalste Entscheidungen. Das wird nicht immer vom Umfeld so gut verstanden. Aber ich weiß nicht, wie lange ich leben werde. Wenn ich den Löffel abgebe, dann immerhin mit wehenden Fahnen.
Was passiert, wenn man den Krebs besiegt hat? Wie macht man weiter, und kehrt man dann einfach zurück in die „Normalität“?
Man geht aus einer Krebserkrankung anders raus, als man reingegangen ist. Es gibt danach eine neue Art der Normalität, in der du bewusster und aufmerksamer in deinen Beziehungen oder auch bei der Ernährung und der Bewegung bist. Nach den Traumatisierungen der Diagnose
und der Therapie entstehen oftmals auch depressive Verstimmungen – das darf man auch nicht ignorieren. Obwohl man vielleicht schulmedizinisch gesehen wieder gesund ist, ist dein Körper gleichzeitig von der Erkrankung gezeichnet und man hat eine Seele mit viel Erfahrung. Die Kombination daraus macht das Leben einfach ein bisschen anders.
Nahezu jeder Mensch hat in seinem Leben entweder selbst oder in seinem Umfeld mit Krebs zu tun. Warum ist es für viele dennoch so ein Tabuthema?
Spannende Frage. Ich habe eine Theorie dazu: Im Volksmund führt Krebs zum Tode, und der wird in unseren Breitengraden stark tabuisiert. Viele Menschen verstehen nicht, dass die meisten Krebspatientinnen
und -patienten überleben und nicht sterben. Denn das ist nach wie vor in unseren Köpfen drin. Mit quasi Todgeweihten zu sprechen, das fällt nicht jedem leicht.
Ich habe das große Glück, in meinem Umfeld Menschen zu haben, die mit einem schwarzen Humor gesegnet sind.
Viele Menschen schweigen vielleicht auch aus Angst, etwas falsch zu machen. Wie ist denn dein soziales Umfeld mit deiner Krebserkrankung umgegangen?
Ich habe das große Glück, in meinem Umfeld Menschen zu haben, die mit einem schwarzen Humor gesegnet sind. Somit haben wir oft über viele Themen, die einfach Angst machen, scherzhaft sprechen können. Vielleicht kennen einige den Irrwicht aus Harry Potter. Der Irrwicht ist ein Schreckensgespenst, das sich in der größten Angst zeigt. Indem man den Irrwicht lächerlich macht, verliert er seine Macht. Diesen Vergleich finde ich grandios.
Warum ist für dich denn generell das Reden über Krebs so wichtig?
Das Gehirn empfindet Schmerz als weniger schmerzhaft, wenn man ihn teilt. Ich wünschte mir, ich wäre früher in die Selbsthilfe gegangen. Mein Umfeld und auch ich, wir hatten alle einfach viel zu wenig Wissen. Fälschlicherweise habe ich immer gedacht, in der Selbsthilfegruppe würden nur jammernde alte Schachteln sitzen.
Aber es tut einfach gut, sich mit anderen Erfahrenen auszutauschen. Die Patientenorganisationen haben aufgrund der Corona-Pandemie gerade keine Chance, Selbsthilfe vor Ort durchzuführen, beziehungsweise müssen auf digitale Kanäle ausweichen. Dadurch ist auch der Zugang zu Selbsthilfe barrierefreier geworden. Heute tauschen wir uns über Facebook-Gruppen aus, man kann aktiv daran teilnehmen oder stille Beobachterin sein. Das hilft, weil dadurch viele Knock-out-Kriterien auf dem Weg zur sich physisch treffenden Selbsthilfegruppe wegfallen.
Stichwort Corona: Die Pandemie hat vieles auf den Kopf gestellt – auch beim Thema Krebs?
Die Corona-Pandemie hat in der Versorgung von Krebspatientinnen und -patienten vieles ins Arge gedreht. So erfolgen zum Beispiel Arzt-Patienten-Gespräche ohne Begleitpersonen, mit Maske und Mindestabstand. Das ist nicht lustig. Es ist ohnehin schon nicht lustig, aber die Pandemie verschärft die Situation noch einmal. Mittlerweile gibt es auch Studien, die belegen, dass seit der Pandemie weniger Krebsdiagnosen gestellt werden. Das hat damit zu tun, dass die so wichtige Früherkennung leider massiv leidet und nicht mehr so gut funktioniert. Nur weil COVID-19 da ist, heißt das nicht, dass Krebs weg ist.
Heute können Menschen, die mit dem Lebensumstand Krebs leben, auch online über YouTube, Instagram und Co. ihre Geschichten teilen. Wie siehst du das?
Wir arbeiten bei Kurvenkratzer auch mit Krebsbloggerinnen und -bloggern alsRole Models. Ich bin sehr dankbar, dass es sie gibt, weil dadurch Krebs menschlich wird. Bei uns können Menschen sich ganz unkompliziert anmelden und drauflosbloggen. Wir wollen diesen einfachen Zugang unterstützen. Es sind ganz erstaunliche Geschichten, die da aus Menschen hervorbrechen.
Ist Kurvenkratzer selbst für dich eines jener Beispiele, dass man auch eine sehr negative Erfahrung in etwas Positives verwandeln kann?
Klar. Ich werde immer wieder gefragt, warum ich mich nach all den Jahren immer noch mit dem Thema Krebs beschäftige und ob ich nicht lieber damit abschließen wolle. In Wahrheit ist das aber ein total schöner Aspekt für mich. Wir haben mit einem coolen Team und vielen Sinnstiftern in unserem Kosmos etwas Wunderbares und Positives geschaffen. Gleichzeitig passiert es in unserem Job aber auch, dass liebe Menschen versterben. Wir kennen harte Schicksalsschläge und müssen damit umgehen. Unser knallbuntes Marketing ist dazu genau der richtige Kontrast.
Euer Magazin ist frech und humorvoll – Humor und Krebs, wie passt denn das zusammen?
Ausgesprochen gut. Denn das ist für mich die größte Ressource, um durch dunkle Zeiten durchzumarschieren. Es darf auch gelacht werden – denn das ist immer wie ein kleiner Kurzurlaub.
Du hostest auch einen Podcast mit dem Namen „Let’s talk about Krebs, Baby!“, in dem du dich unter anderem mit Langzeitfolgen, Sexualität oder dem Tod beschäftigst. Welche Reaktionen hast du bislang darauf erhalten?
Wir erhalten total positive Rückmeldungen! Podcasts sind ein sehr langsames Format, um sich in aller Tiefe mit einem Thema zu beschäftigen und verbindlich zuzuhören. Das eröffnet uns neue Dialoggruppen. Wir laden tolle Gesprächspartnerinnen und -partner ein, die über die Themen möglichst angstfrei sprechen. Wir erhalten sehr viel Lob von unserer Community, aber wir sind ehrlich gesagt auch eine sehr positive Bubble!
Es gibt in Österreich eine neue Allianz von onkologischen Selbsthilfegruppen. Welchen Stellenwert hat für dich der Faktor Vernetzung?
Im Bereich der Patient Advocacy ist bis dato in Österreich noch zu wenig passiert. Das fängt schon im Studiendesign in der Forschung an, geht weiter in politischen Gremien bis hin zum Arzt-Patienten-Gespräch. Es spannt sich also ein breiter Bogen über die gesamte Patient Journey. Es wird zwar oft über Patientinnen und Patienten gesprochen, aber ganz selten mit ihnen. Die Vernetzung von onkologischen Selbsthilfegruppen hat daher den Hintergrund, gemeinsam stärker zu sein und somit auch politische Relevanz zu erhalten. Gemeinsam sind wir stärker und lauter.
Zum Abschluss: Von welcher Frage wünschst du dir, dass sie Menschen mit dem Lebensumstand Krebs öfter gestellt wird?
Gute Frage, aber vermutlich: Wie hättest du denn gerne, dass wir mit der Situation umgehen? Denn das öffnet die Tür für Kommunikation. Schweigen entsteht ja, weil Menschen nicht wissen, was sie tun sollen. Daher lautet auch unser Slogan bei Kurvenkratzer: Egal wie du über Krebs sprichst, Hauptsache, du tust es!