Das österreichische Gesundheitssystem verfügt über einen sehr guten, niederschwelligen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Gleichzeitig gibt es an vielen Stellen massiven Anpassungs- und Aufholbedarf – gerade im Feld der Patient:innenvertretung.
Martina Hagspiel
Patient Advocate
Foto: Caro Strasnik
Anita Kienesberger
Patient Advocate
Foto: CCI Europe
Schaut man sich die Statistik an, ist Österreich auf medizinischer Ebene weltweit in der ersten Liga vertreten. So glauben wir. Das bedeutet nicht, dass wir hierzulande in einer medizinischen Idylle leben. Die Ergebnisse im Bereich der onkologischen Versorgung befinden sich im europäischen Mittelfeld. Ein fragmentiertes Gesundheitssystem und fehlende Daten über den Ausgang der Behandlungen lassen große Versorgungslücken offen. Und: Es fehlt die Patient:innensicht. Mehr als ein paar qualifizierte Stimmen rufen derzeit simultan nach einem Kulturwandel und Paradigmenwechsel. Warum? Weil das Gesundheitssystem immer noch nicht weiß, was Patient Advocacy ist.
Ganz allgemein bezeichnet Patient Advocacy (Patient:innenvertretung durch qualifizierte Patient:innenstimmen) Bestrebungen, die Interessen von Patient:innen zu stärken und ihre Realitäten besser sichtbar zu machen. Patient Advocates können auf lokaler oder nationaler Ebene tätig sein. Sie unterstützen erkrankte Menschen, schärfen das öffentliche Bewusstsein für die Krankheit, treiben die Forschung voran, verbessern die Qualität der Versorgung oder beschäftigen sich mit legislativen und regulatorischen Fragen. Dabei werden der Mehrwert der patient:innenzentrierten Behandlung, die Vorteile der frühzeitigen Einbindung in die Forschung und die Pluspunkte von qualifizierten Erfahrungsberichten erklärt, gefördert und gefordert. Es geht um Transparenz und Patient:innenorientierung; darum, Aspekte der Lebensqualität in die Versorgung einzubeziehen. Typischerweise handelt es sich bei Patient Advocates um (ehemalige) Patient:innen oder deren Angehörige. Es kann jedoch auch vorkommen, dass medizinisches Fachpersonal in diese Rolle schlüpft.
Mut ist Veränderung – nur früher.
In der österreichischen Praxis haben Patient Advocates in Forschung und Entwicklung sowie gesundheitspolitischen Gremien (noch) keinen echten Platz, denn hierzulande wird aufgrund aktueller Gesetzestexte nicht zwischen Laienpatient:innen und professionellen Patient:innenvertretungen unterschieden. Auch fehlen Erfahrung, Wissen und Verständnis der einzelnen Stakeholder:innen, wann und wie professionelle Patient:innenstimmen in verschiedene Themen eingebunden werden können. Es wird also primär über und nicht mit Patient:innen gesprochen und entschieden.
Der Grund: Es gibt keine offizielle Berufsbezeichnung. Trotz Qualifikation wird Patient Advocates immer noch der Lai:innenstatus zugeschrieben. Die Lösung liegt in der Innovation und im mutigen Handeln der relevanten Stakeholder:innen. Kulturwandel und Paradigmenwechsel sollen durch die Etablierung des Berufsbilds „Patient Advocate“ möglich sein. Mehr dazu wissen die Patient Advocates Martina Hagspiel (InfluCancer) und Anita Kienesberger (Childhood Cancer Europe, kurz CCI Europe). Ziel ist es, dass qualifizierte Patient:innenstimmen besagten Lai:innenstatus verlieren.
Wenn du weit gehen willst, dann gehe mit anderen gemeinsam
Martina Hagspiel und Anita Kienesberger vertreten Patient:innen mit onkologischen Erkrankungen, also Krebs – aus unterschiedlichen Gründen. Martina hatte Brustkrebs, Anita blickt auf 20 Jahre Geschäftsführung der Österreichischen Kinderkrebshilfe zurück. Heute sind sie als Patient Advocates tätig, arbeiten Seite an Seite in der in 2021 gegründeten Allianz der onkologischen Patient:innenorganisationen.
Ihr Fokus liegt auf einer verbesserten Versorgung von Patient:innen und deren Angehörigen in Österreich. Unter anderem soll mit dem Universitätslehrgang „Patient Advocacy – Management in Patient:innenorganisationen“ eine richtungsweisende Weiterbildung entstehen. So können nicht nur die Kompetenzen der österreichischen Patient:innenvertretung drastisch verbessert werden, sondern durch die neue Ausbildung werden auch objektivierbare Rahmenbedingungen für das neue Berufsbild Patient Advocate geschaffen.
So wie Martina und Anita ihren Beruf als Patient Advocate ausüben, basiert die Arbeit vor allem auf der Kommunikation zwischen unterschiedlichsten Stakeholdern und Stakeholderinnen. Beide sind mit ihren Organisationen länderübergreifend tätig; Martina mit der Patient:innenorganisation InfluCancer, die sich für den öffentlichen Umgang mit Krebs einsetzt. Die Ziele sind klar: Es geht um Selbstwirksamkeit, Mündigkeit, das Aufbrechen von Tabus und angstfreien Umgang mit Krebs. „Wir brauchen ein grundsätzliches Verständnis dafür, dass optimale Versorgung nur dann gelingt, wenn der Kulturwandel Patient:innen nicht nur mitgestalten lässt, sondern ihnen auch eine Stimme gibt.“ „Patient:innen brauchen einen Platz am Verhandlungstisch“, weiß Anita Kienesberger. Als Vorsitzende von CCI Europe verfolgt sie die Vision, ehemals an Krebs erkrankten Kindern und Jugendlichen (Survivors) und deren Eltern, den Zugang zu bestmöglichen Behandlungsmethoden zu erleichtern, die Erforschung von neuen Medikamenten voranzutreiben und eine flächendeckende Nachsorge für Survivors zu implementieren.
„Mit uns statt über uns“ lautet die Forderung
Patient Advocacy steht in Österreich erst am Anfang und hat noch einen langen Weg zur Systemrelevanz vor sich. Dank der gesundheitspolitischen Arbeit einiger sehr aktiver Patient Advocates und aufgrund von Zusammenschlüssen wie die Allianz der onkologischen Patient:innenorganisationen wird deutlich, dass es an der Zeit ist, der stark unterrepräsentierten Gruppe der Patient:innen einen Fixplatz am Verhandlungstisch zu bieten und sie in die Diskussionsrunden der Gesundheitspolitik und darüber hinaus einzuladen.