Prim. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Hilbe
Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie
Der Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Hämatologie & Medizinische Onkologie, Prim. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Hilbe, über das Leben mit der Diagnose Krebs und darüber, warum das neue Auto vor der Tür eigentlich nichts wert ist.
Herr Primarius Hilbe, wie erleben Sie den Alltag mit Krebspatienten?
Die Diagnose Krebs ist immer eine besondere Erfahrung, ist sie doch die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit. Die Reaktion der Menschen darauf fällt aber sehr unterschiedlich aus. Von Angst, Wut und Ablehnung bis zur Depression ist alles mit dabei. Auch wird der Krebs oft verdrängt, zumindest zu Beginn. Wir erleben die ganze Bandbreite der Psychologie einer Stressbewältigung. Fakt ist, dass man in der Onkologie immer wieder Patienten erlebt, die eine unglaubliche Kraft haben – die natürlich auch am Leben hängen und die viel investieren und auf sich nehmen, um leben zu können.
Wie ist das Verhältnis zwischen Patienten und behandelnden Ärzten?
Es herrscht eine hohe Interaktion auf einer empathischen und auch auf einer Vertrauensebene zwischen den beiden Parteien. Schließlich geht man gemeinsam über eine oftmals lange Strecke. In der Onkologie begleiten wir unsere Patienten langfristig – von der meist schockierenden Erstdiagnose über die Schritte einer Behandlung, die Suche nach dem richtigen Therapieweg für den Patienten bis hin zur letzten Lebensphase, in der nicht mehr die Tumortherapie im Vordergrund steht, sondern primär die Kontrolle von Tumorsymptomen, wie etwa Schmerzen. Ich kenne viele Patienten, die wirkliche Helden sind. Es ist oft unglaublich, mit welcher Geduld, mit welcher Kraft und mit welchem Lebenswillen sie ihre Krankheit ertragen. Man sieht in solchen Extremsituationen, wozu viele Menschen imstande sind.
Ist es eigentlich möglich, dem Krebs auch mit einer positiven Einstellung zu begegnen?
Ein wichtiges Thema ist die Möglichkeit nach der Therapie im Krankenhaus wieder in den Alltag zurückzufinden und nicht das ganze Leben von der Diagnose Krebs bestimmen zu lassen. Ich glaube, es ist ganz wichtig, den Krebs zwar als Begleiter zu akzeptieren, aber auch die kleinen Dinge des Alltags wichtig zu nehmen. Für viele Betroffene führt die Krebsdiagnose zu einer Lebensstiländerung oder zu einer anderen Fokussierung im Leben. All das kann man durchaus als positiven Nebeneffekt sehen und zum eigenen Vorteil nutzen.
Was wünschen sich Menschen, die kritisch krank sind?
Wenn man Gesunde fragt, was sie im Krankheitsfall machen würden, sagen die in der Regel immer, sie würden eine Weltreise machen oder ein tolles Auto kaufen. Wenn man aber mit Krebspatienten redet, erfährt man, dass ganz andere Dinge wichtig sind. In der Früh aufzustehen, gemütlich einen Kaffee zu trinken, Zeitung zu lesen und mit den Liebsten Zeit zu verbringen, wird als viel wesentlicher und wichtiger erachtet als eine große Reise oder ein Sportwagen. Schwer kranke Menschen suchen den Alltag, nicht das Außergewöhnliche. Daran erkennt man, welchen Stellenwert schein- bar normale Dinge haben können. Darüber sollte man sich auch als Gesunder Gedanken machen und versuchen, etwas für das eigene Leben zu lernen.
Was können Angehörige tun, um Betroffenen Mut zu geben?
Wichtig ist, einfach da zu sein. Wenn intubierte Patienten auf der Intensivstation Besuch ihrer Angehörigen bekommen, beobachten wir oft, dass der Puls ruhiger wird und der Blutdruck sinkt. Auch Patienten im Sterbebett spüren, dass jemand Vertrautes da ist. Die alleinige Anwesenheit von Angehörigen entspannt die Betroffenen. Man muss als Angehöriger gar keine klugen Ratschläge von sich geben oder ununterbrochen reden. Einfach nur da zu sein, hilft am meisten.
Gibt es besondere Herausforderungen im Krebsalltag seit Corona?
Seit der allgegenwärtigen Corona-Pandemie leiden Krebspatienten unter doppelter Angst: der Angst vor der Krebserkrankung an sich und der Angst, sich als Teil einer vulnerablen Gruppe mit Corona anzustecken und daran vielleicht sogar zu versterben. Das führt dazu, dass sich Patienten stark zurückziehen, um das Ansteckungsrisiko zu verringern. Aber gerade in einer schwierigen gesundheitlichen Situation ist diese psychosoziale Isolation besonders schlecht. Hinzu kommen teilweise verschobene Operationen und schlechterer Zugang zu einer Früherkennung. All das wirkt sich ausgesprochen negativ auf den Alltag von Krebspatienten aus.
Was möchten Sie Betroffenen, Ärzten, Pflegern oder Angehörigen mitgeben?
Man lernt im jahrzehntelangen Umgang mit Krebspatienten eine wichtige Sache: Es ist nicht entscheidend, wie lange ein Leben grundsätzlich ist, sondern dass man die Zeit, in der man lebt, mit Inhalten füllt. Man lernt auch, das Hier und Jetzt bewusster wahrzunehmen und auch im Jetzt zu leben. Das Verschieben von Dingen in eine vage Zukunft kann schnell schiefgehen. Sich bewusst Zeit für seine Mitmenschen, seine Familie und Freunde zu nehmen, ist wichtig. Und was man sich auch vor Augen führen sollte: Am Ende des Tages zählt das Materielle nicht. Nur Beziehungen zu anderen Menschen bleiben übrig. Wer begleitet mich am Krankenbett? Das neue Auto vor der Tür hilft mir dann gar nichts.